Im letzten Beitrag wies ich schon einmal auf die Biographie von Judith Rich Harris hin. Als Ergänzung möchte ich noch Ihre eigenen Vorbemerkungen aus "Ist Erziehung sinnlos?" anführen, die deutlich machen, welches Verständnis Harris von der akademischen Lehre bzw. den Strukturen insgesamt hatte. Nachdem sie aufgrund einer chronischen Autoimmunerkrankung ans Bett gefesselt war, fing sie für sich an, neue wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen. Zu dieser Veränderung schrieb sie folgendes:
"Zum Glück kam die Metamorphose zu spät, als dass sie mir die Rückkehr zwecks Promotion erlaubt hätte. Damit entging ich aller Indoktrination. Was ich über Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie lernte, eignete ich mir auf eigene Faust an. Ich war ein Außenseiter mit Einblick, und das war das Entscheidende. Ich erlag den Thesen des akademischen Establishments nicht. Ich war ihnen nicht durch Stipendien verpflichtet. Und als ich erst einmal mit dem Lehrbuchschreiben aufgehört hatte, verlangte niemand von mir, ich müsste den Status quo dadurch aufrechterhalten, dass ich weiterhin gläubigen College-Studenten das überlieferte Evangelium predigte. Mit dem Lehrbuchschreiben hatte ich deshalb Schluss gemacht, weil mir eines Tages bewusst wurde, dass vieles von dem, was ich diesen gutgläubigen Studenten erzählt hatte, schlicht falsch war. "Wenn möglich", riet ein Arzt im Journal of the American Medical Association, "sollte die Wirksamkeit einer Maßnahme von einem Außenstehenden festgestellt werden, der durch deren Fortsetzung nichts zu gewinnen hat." Mit anderen Worten, wer die Wahrheit über des Kaisers Kleider wissen will, darf nicht die Schneider fragen." (Harris (2000). Ist Erziehung sinnlos? Rowolth. S. 15-16.)
In diesem Absatz gibt Harris m.E. wesentliche Charakteristika des universitären Betriebs wieder, die auch heute noch zu großen Teilen gültig sind, darunter Indoktrination von Lehrinhalten, Gläubigkeit statt Kritik, Dogmatismus, Ausnutzen von Abhängigkeiten bei Stipendiaten und Mitarbeitern usw. Zudem betont Harris damit, dass ihr bahnbrechendes Buch niemals im universitären Radius hätte entstehen können. Sie macht einen wissenschaftlichen Individualismus stark, in dem Sinne nämlich, als dass sie ihr genuines wissenschaftliches Wirken gegen die institutionellen Spielregeln der Universität stellt. In diesem Zusammenhang macht sie aber auch einzelne Persönlichkeiten an den Universitäten stark, die für sie wesentlich waren, darunter z.B. Steven Pinker, der sie in ihrer Arbeit wohl immens unterstützt hat. Die Suggestionskraft einer geistigen Exzellenz im Ganzen wird durch einen solchen Individualismus aber aufgebrochen. Deutlich wird, dass nur Einzelne der Wahrheit verpflichtet bleiben und universitäre Strukturen diesem Faktum entgegenkommen müssten, anstatt Professoren anti-demokratisch mit übermäßigen Befugnissen auszustatten, wie z.B. Gutachter und Vorgesetzter gleichzeitig zu sein (Mitarbeiter sollten vielmehr , wie vor vielen Jahren, am Institut selbst angestellt werden). Und nicht zuletzt sollten engagierte Akademiker dem Beispiel von Harris folgen und ihr Denken nicht von einer zunehmend maroden Universitätsstruktur abhängig machen.
Auch sie sind Außenseiter mit Einblick und wir alle sollten auf der Suche nach der Wahrheit über des Kaisers Kleider nicht mehr ausschließlich die Schneider fragen!