Die Früchte struktureller Verdummung - Zur Notwendigkeit quer zu denken

Im sogenannten Wissenschaftsjahr 2007 gab es unter der Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Initiative Wissenschaft im Dialog (WiD) ein Veranstaltungspaket, das unter dem Motto "Die Geisteswissenschaften. ABC der Menschheit" Bürgern die Geisteswissenschaften nahe bringen sollte. Spannenderweise befand sich in diesem ABC auch noch der Begriff Querdenken und es ist aus heutiger Sicht maximal irritierend, welcher Kontrast in Hinblick auf diese damalige Begriffssemantik zu der heutigen Realtität der Geisteswissenschaften an den Universitäten besteht. So wurde folgendes festgestellt:

 

"In gewisser Weise lassen sich die Geisteswissenschaften als institutionalisiertes Querdenken begreifen – als Instanzen des Nachdenkens, in denen die verschiedenen Wertinstanzen und Sinnrefugien der Gesellschaft in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Als Leistung der Verknüpfung unterschiedlicher Wissensbereiche spielt das Querdenken in den Geisteswissenschaften eine große Rolle. Bis es dazu kommen konnte, musste sich erst einmal ein autonomer Bereich der Wissenschaften etablieren, auch dabei war Querdenken zentral – erst einmal als Fähigkeit, von den Normen der jeweiligen Zeit abstrahieren zu können. Besonders augenfällig ist das bei wissenschaftlichen Revolutionen, die einen vollkommen neuen Blick auf die Welt nach sich zogen."

(https://www.wissenschaftsjahr.de/2007/coremedia/generator/wj/de/02__ABC_20der_20Menschheit/Q.html)

 

Wir wissen alle, welche gesellschaftlichen Katastrophen diesen massiven Kontrast bedingten: die Bologna-Reform, der wachsende Einfluss der Wokeness-Ideologie und Corona. Gerade bei letzterer manifestierte sich eine bedeutungsvolle und endgültig wirkende Gegenüberstellung, die in dem Titel eines Parteibeschlusses der LINKEN seinen expliziten Ausdruck fand: Solidarität statt "Querdenken" (https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand-2021-2022/detail/solidaritaet-statt-querdenken/).

Soll also heißen, wer gerade im Sinne der damaligen Geisteswissenschaften auch nur in irgendeiner Form von dem Normdenken der Gegenwart abwich und seinen Denkapparat selbstständig aktivierte, der offenbarte nun seine Nicht-Solidarität und war und ist gesellschaftlich zu ächten. Und genauso zeigt sich auch die gegenwärtige Realität an den Universitäten. Wer nicht gendert bekommt Notenabzug, wer kein Pronomen äußern möchte, wird exkludiert, wer es wagt, Zuwanderung nicht als ererbte Bringschuld weißer Kolonialisten ins unendliche undifferenziert Fortzuführen, wer gar als Deutscher unabhängig von Hautfarbe und Herkunft eine kulturelle Identität für sich beanspruchen möchte - ja, der ist Querdenker, unsolidarisch und, was heute auch ineins genommen wird, Rassist.

Natürlich ist offensichtlich, dass gerade diejenigen, die hier diktatorisch Dichotomien verewigen möchten, die eigentlichen Anti-Demokraten repräsentieren, auch wenn sie natürlich permanent das Wort Demokratie wie eine Monstranz vor sich hertragen. Timo Rieg hat hier vollkommen recht, wenn er betont, dass wir uns ohne die Rehabilitierung des Querdenkens auch "die Idee, demokratisch nach den besten Lösungen zu suchen, schenken können." (https://www.deutschlandfunkkultur.de/querdenker-medien-100.html)

Diese strukturelle Verdummung mit ihrem feigen Opportunismus und ihrer Massenmacht-Orientierung, also die fehlende Fähigkeit querdenken zu können, wird zurzeit von Berliner Hochschulen in einer derart massiven Art und Weise verkörpert, dass man nur zwischen tiefster Scham und gerechtem Zorn schwanken kann. Studenten der Alice-Salomon Hochschule besetzten Räume, forderten den Boykott von israelischen Einrichtungen, skandierten wie so häufig "From the river to the sea" und auch das rote Hamas-Dreieck zur Markierung von Terrorzielen fand sich wieder an einer Wand (vgl. auch https://www.berliner-zeitung.de/news/alice-salomon-hochschule-wieder-besetzt-praesidentin-streitet-mit-der-polizei-video-li.2287373).

In einer Erklärung des Präsidiums wird nun dezidiert identitätstheoretisch ausgeführt:

 

"In der politisch aufgeladenen angespannten Auseinandersetzung mit Terror und Krieg im Nahen Osten und den Folgen für unsere Gesellschaft und unsere Hochschulkultur vervielfältigt sich die Erfahrung von Angehörigen unserer Hochschule und das allgemeine Risiko, dass als muslimisch und arabisch oder als People of Color gelesene Personen besonders schnell und voreingenommen in den Fokus von Anschuldigung, verbaler und handgreiflicher Aggression oder behördlichen Maßnahmen geraten."

(https://www.juedische-allgemeine.de/politik/terrorunterstuetzer-besetzen-saal-der-alice-salomon-hochschule/)

 

Wir sehen mal wieder das typische Muster, dass im Sinne der Postcolonial Studies theoretisch postulierte Minderheiten, die aber in der Realität meist den Aggressor darstellen, Schutz- und Veranstaltungsräume angeboten werden, während jüdische Studenten explizit mit von der Hochschule geduldeten Plakaten ferngehalten werden sollen. Während jüdische Studenten nachweislich Opfer von Gewalt wurden, findet sich zu obiger Behauptung keine Evidenz (vgl. ebd.). Statt dem antisemitischen Treiben Einhalt zu gebieten, sah es die Hochschulpräsidentin Bettina Völter vielmehr als ihre Aufgabe an, die Polizei als bedrohlich zu deklarieren und sich in Gutsherrenattitüde über die Beamten zu stellen ("Hören Sie mal zu! Wie reden Sie eigentlich mit mir? [...] Ich bin die Präsidentin etc."). Nach all dem, was in den letzen Monaten an Unis und Hochschulen in Berlin geschehen ist und was auch an diesem Abend sichtbar und hörbar von den Studenten ausgedrückt wurde, meint diese Präsidentin nun, die "armen" aktivistischen Studenten vor der bösen Polizei in Schutz nehmen zu müssen. Genormtes ideologisches Handeln und Denken hatte bei ihr offensichtlich den Vorrang vor individuellem Gewissen und Verantwortung, nicht zuletzt, weil sie bei den aktuellen Strukturen an Unis und Hochschulen wahrscheinlich ansonsten gar nicht in ihr Amt gekommen wäre.

Interessant ist hier natürlich auch der wissenschaftliche Hintergrund der Präsidentin. Diese ist Professorin für Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit und führt ein derzeitiges Entwicklungsprojekt mit dem Titel "Sage SAGE! Systemrelevante Akademisierung gender- und diversitygerecht etablieren. Professorales Personal für SAGE-Disziplinen! (Sage SAGE!)" durch. Wichtig natürlich: "Sie fördert Wissenschaftler_innen of color und mit Flucht- und Migrationsgeschichte." (https://www.ash-berlin.eu/hochschule/lehrende/professor-innen/prof-dr-bettina-voelter/) Warum die durchaus plausible Idee professorales Personal frühzeitg zu fördern und zu entwickeln, hier wieder identitätstheoretisch und nicht leistungsgerecht (was natürlich eben auch diese Gruppen implizieren und inkludieren würde) ausformuliert werden muss, bleibt nach obigen Ausführungen der eigenen Interpretation überlassen. Sowohl in ihrer Promotion als auch in einem DFG-Projekt hat sich Frau Völter mit dem Judentum auseinandergesetzt, was es noch schwerer macht, ihr aktuelles Agieren nachzuvollziehen. 

Es bleibt offen, ob und welche Konsequenzen der Vorfall haben wird, aber die zunehmende Politisierung an den Unis und Hochschulen sollte jeder vernünftige Mensch sehr kritisch betrachten.

In "DIe Idee der Universität" schrieb Karl Jaspers 1946 nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus:

 

"Unsere deutschen Universitäten haben sich von jeher manche politische Entgleisungen wie wohl alle Universitäten der Welt zuschulden kommen lassen. Soweit aber sie oder ihre Glieder in den letzten zwölf Jahren sich in ihrer geistigen Arbeit und in Handlungen zu Anpassungen und Umbiegungen haben zwingen lassen oder gar aus unbegreiflicher Überzeugung an den Kräften des Regimes fördernd teilgenommen haben, sind sie bedingungslos zu verurteilen, vor allem auch wegen des dadurch begangenen Verrats an der Universitätsidee."

 

Dezidiert formulierte Jaspers deshalb: "Politik gehört an die Universität nicht als Kampf, sondern nur als Gegenstand der Forschung. Wo politischer Kampf an der Universität stattfindet, leidet die Idee der Universität Schaden." Genau diesen Bildungsanspruch benötigen wir wieder an Unis und Hochschulen. Professoren versündigen sich aktuell an Bildung als einem allgemeinen Menschengut, indem sie aus ideologischen und karrieristischen Gründen politisieren. Auch der Rückbezug auf Lehrfreiheit gilt hier nicht:

 

"Solche Lehrfreiheit kann jedoch nur bestehen, wenn die Forscher, die sie in Anspruch nehmen, sich ihres Sinns bewußt bleiben. Lehrfreiheit heißt nicht etwa das Recht zu beliebiger Meinungsäußerung. Wahrheit ist eine viel zu schwere und große Aufgabe, als daß sie verwechselt werden dürfte mit dem Inhalt unkritischer und leidenschaftlicher Meinungen in den Daseinsinteressen des gegenwärtigen Augenblicks. Die Lehrfreiheit besteht nur in wissenschaftlicher Absicht. Sie besteht in Bindung an Wahrheit. Keine praktische Zielsetzung, keine inhaltlich bestimmte Erziehungstendenz, keine politische Propaganda kann sich auf Lehrfreiheit berufen."

 

Wir sehen leider, wie aktuell die Ausführungen von Jaspers wieder sind und wir uns als Deutsche erneut in einer Situation befinden, die niemand in den vergangenen Jahrzehnten für möglich gehalten hätte. Und dass es gerade wieder das Personal an Universitäten und Hochschulen ist, das äußerst willfährig alles dafür tut, sich dem Zeitgeist anzubiedern und die Idee der Universität (und Hochschule) zu verraten. Dies gerade und besonders, weil es leider die Fähigkeit zum Querdenken nicht (mehr) hat und diesen Quell individueller Produktivität und Kreativität aus kollektivistischer Motivation zutiefst verachtet.